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Sunahla Nicole Sthioul
Definitionen
Ein Bindungstrauma entsteht durch wiederholte oder extreme Störungen in der frühkindlichen Bindung. Dazu zählen Vernachlässigung, Missbrauch oder emotionale Abwesenheit von Bezugspersonen. Diese Erlebnisse prägen das Nervensystem und führen zu tiefgreifenden Überlebensstrategien wie Vermeidung, Erstarrung oder emotionaler Abkopplung. Bindungstrauma ist oft mit einer dysfunktionalen Regulation von Emotionen und Beziehungen verbunden.
Eine Bindungswunde hingegen ist weniger schwerwiegend, aber nicht weniger bedeutsam. Sie resultiert aus spezifischen Erlebnissen, die eine Person emotional verletzen, wie Ablehnung oder Verlust. Während ein Bindungstrauma oft chronischer Natur ist, sind Bindungswunden meist punktuell und können im Erwachsenenalter bewusster verarbeitet werden. Dennoch haben auch sie das Potenzial, in Beziehungen als Trigger zu wirken.
Auswirkungen auf Übertragung und Gegenübertragung in der Komplementärtherapie
Übertragung
In der Therapie bringt der Klient oft unbewusste Muster aus seinen frühen Bindungserfahrungen mit. Bei einem Bindungstrauma kann dies z.B. bedeuten, dass der Klient:
- Misstrauen gegenüber der Therapeutin hat, da frühere Bezugspersonen nicht zuverlässig waren.
- Abhängigkeit oder idealisierte Vorstellungen entwickelt, weil ein tiefes Bedürfnis nach Sicherheit und Nähe besteht.
- Abwehrmechanismen wie Vermeidung oder Aggression zeigt, um sich vor erneuten Verletzungen zu schützen.
Bei Bindungswunden könnten sich in der Übertragung eher spezifische Themen zeigen, wie:
- Angst vor Ablehnung oder das Gefühl, nicht wichtig genug zu sein.
- Sehnsucht nach Verständnis, die auf einzelne verletzende Erlebnisse zurückgeht.
Gegenübertragung
Auf der Seite der Therapeutin können diese Übertragungsmuster intensive Gegenübertragungen auslösen. Bei Bindungstrauma könnten Gefühle von Ohnmacht, Überforderung oder sogar Ablehnung entstehen, da die tiefe emotionale Not des Klienten eine starke Resonanz erzeugt.
Bindungswunden hingegen können leichter zu einer „rettenden“ oder „tröstenden“ Haltung führen, da die Verletzung oft klarer wahrnehmbar und begrenzter ist.
Die Herausforderung besteht darin, sich dieser Dynamiken bewusst zu sein und sie für den therapeutischen Prozess zu nutzen, ohne in eigene Muster oder Rollen (z. B. die „rettende Mutter“) zu geraten.
Heilung durch Beziehungsgestaltung in der Komplementärtherapie
Die Beziehungsgestaltung ist ein zentraler Heilungsweg in der Komplementärtherapie, insbesondere bei Bindungsthemen. Das Ziel ist es, eine neue, korrigierende Beziehungserfahrung zu schaffen, die Sicherheit, Akzeptanz und Wachstum ermöglicht.
Spezifische Ansätze in der Komplementärtherapie
Präsenz und Regulierung
Die Therapeutin bietet einen sicheren Raum, in dem der Klient schrittweise lernen kann, Gefühle und Bedürfnisse wahrzunehmen, ohne überfordert zu werden.
Methoden wie Atemarbeit, Körpertherapie oder Meditation können helfen, das Nervensystem zu beruhigen und eine innere Sicherheit zu fördern.
Spiegelung und Empathie
Bindungswunden und -trauma werden oft durch mangelnde Resonanz in der frühen Kindheit verstärkt. Eine achtsame Spiegelung der Gefühle des Klienten hilft, eine tiefe emotionale Verbindung aufzubauen und das Erleben zu validieren.
Reparatur von Beziehungsbrüchen
In der Therapie können auch kleinere Beziehungsbrüche auftreten, etwa wenn die Therapeutin ein Bedürfnis des Klienten nicht erkennt. Das bewusste Ansprechen und gemeinsame Verarbeiten solcher Brüche bietet die Möglichkeit, neue Bindungserfahrungen zu machen.
Förderung von Selbstwirksamkeit
Besonders bei Bindungstrauma ist es wichtig, dass der Klient lernt, sich selbst zu regulieren und seine Ressourcen wahrzunehmen. Hier können körperorientierte Techniken oder kreative Methoden unterstützen, um eine stärkere Verbindung zum eigenen Selbst aufzubauen.
Der transformative Aspekt der Beziehung
In der Komplementärtherapie wird die Beziehung zwischen Klient und Therapeutin zum zentralen Heilungsinstrument. Durch die Erfahrung einer stabilen, nicht wertenden Beziehung können alte Muster aufgelöst und neue, positive Bindungserfahrungen gemacht werden. Diese „korrigierende emotionale Erfahrung“ ist besonders kraftvoll, da sie direkt das Bindungssystem anspricht und neuronale Veränderungen ermöglicht.
Praktische Beispiele
Ein Klient mit Bindungstrauma erlebt zum ersten Mal, dass seine Angst in einer therapeutischen Beziehung gehalten werden kann, ohne dass er abgewertet wird.
Eine Klientin mit Bindungswunden spürt, dass ihre Bedürfnisse wichtig sind, indem die Therapeutin achtsam auf subtile Signale eingeht.
Durch die Wiederherstellung eines gesunden Bindungserlebens wird Heilung möglich. Die Integration dieser Erfahrungen in den Alltag fördert tiefere Selbstakzeptanz, Beziehungsfähigkeit und Lebensfreude.
Fazit
Bindungstrauma und Bindungswunden unterscheiden sich in Schweregrad und Ursprung, doch beide hinterlassen tiefe Spuren im Bindungssystem eines Menschen. Die Komplementärtherapie bietet durch ihre Beziehungsgestaltung, ihre körper- und ressourcenorientierten Ansätze und die Arbeit mit Übertragung und Gegenübertragung eine einzigartige Möglichkeit, diese Wunden zu heilen. Entscheidend ist die Fähigkeit der Therapeutin, mit Präsenz, Empathie und Klarheit einen Raum zu schaffen, in dem sich der Klient sicher fühlen und alte Muster transformieren kann.
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