Wenn die Tage kürzer werden, das Licht schwächer und die Kälte zunimmt, verändert sich nicht nur die Welt um uns herum. Auch in uns selbst nimmt eine bestimmte Qualität Raum ein – die der Schwere, der Ruhe, der Rückkehr zum Innersten. In der indischen Philosophie wird diese Kraft Tamas genannt – eine von drei sogenannten Gunas, den Grundkräften oder Eigenschaften der Natur.
Was sind die Gunas?
Das Wort Guna stammt aus dem Sanskrit und beschreibt drei Kräfte, die in allem Wirken und Leben enthalten sind. Sie wirken nicht getrennt, sondern ständig ineinander verwoben:
- Sattva steht für Klarheit, Leichtigkeit und Erkenntnis. In der Körperarbeit zeigt sich dies als sanfte, harmonisierende Berührung.
- Rajas bringt Bewegung, Antrieb und Impuls. Wir nutzen sie für zielgerichtete, aktivierende Impulse, z. B. durch Bewegung oder dynamische Griffe.
- Tamas verkörpert Schwere, Ruhe, Verdichtung – aber auch Stagnation oder Blockade. Die tamasische Berührungsqualität ist tiefgehend, lösend und dispersiv. Sie wirkt dort, wo Energie erstarrt ist, wo chronische Spannungen oder Müdigkeit dominieren.
In der Polarity Therapie begegnen wir diesen Qualitäten nicht nur in der Lebensweise, sondern ganz konkret in der therapeutischen Arbeit. Jede Berührung, jede Intervention, jede Haltung kann einer Guna zugeordnet werden – bewusst oder unbewusst. Und je besser wir die Wirkungen dieser Kräfte kennen, desto gezielter können wir sie in der Begleitung einsetzen.
Gerade die tamasische Qualität birgt viele Missverständnisse – und gleichzeitig tiefes Potenzial.
Tiefe statt Härte
In der körpertherapeutischen Praxis ist der Impuls stark, auf Spannung mit Druck zu reagieren. Harte Stellen im Gewebe – da „muss man doch durch“, oder? Doch genau hier zeigt sich die Weisheit der Polarity Therapie: Tiefe entsteht nicht durch Kraft, sondern durch Präsenz.
Die tamasische Berührungsqualität ist nicht gleichzusetzen mit „kräftiger Massage“. Sie ist vielmehr ein energetisches Einlassen, ein tiefes Lauschen und Arbeiten mit dem, was sich zeigt – ohne es zu erzwingen. Der Körper weiss oft besser als wir, wie tief er bereit ist zu gehen. Unsere Aufgabe ist es, ihn dabei nicht zu überfahren, sondern einzuladen.
Die fünf Aspekte der Tiefe
Ein Modell, das mich seit Jahren begleitet und inspiriert, sind die Fünf Punkte der Tiefe – ursprünglich beschrieben vom Körpertherapeuten Thomas Myers. Sie lassen sich wunderbar in die Polarity Praxis übertragen:
- Intention
Was trage ich innerlich in die Begegnung hinein? Bin ich klar in meiner Haltung – oder getrieben von dem Wunsch, etwas „lösen“ oder „besser machen“ zu müssen? Die Gewebe spüren unsere Absicht. Klare Intention öffnet Räume. - Einladung
Jede Berührung ist ein Angebot. Drücke ich – oder lade ich ein? Tamasische Berührung ist wie ein warmer Atem auf gefrorener Erde: Sie schmilzt nicht sofort, aber sie beginnt zu reagieren. - Information
Unsere Hände übermitteln ständig Informationen – ob bewusst oder nicht. Wenn wir mit der Absicht berühren, dem Gewebe neue Möglichkeiten anzubieten, kann das mehr bewirken als jede Technik. Es ist ein Lernen, nicht ein „Behandeln“. - Körpergebrauch
Viele von uns lernen in der Ausbildung: „Benutze dein Gewicht, nicht deine Muskeln.“ Und doch fallen wir oft in die Kraft zurück, gerade wenn wir „tief“ arbeiten wollen. Tamasische Berührung erfordert aber Entspannung im Tun – sonst erzeugen wir Widerstand, wo wir Loslassen fördern wollen. - Bewegung
Besonders spannend finde ich den Aspekt der Bewegung. Viele Klient*innen haben durch Schmerz oder Trauma bestimmte Bewegungsmuster verlernt. Wenn wir sie einladen, sich selbst zu bewegen – während wir sie halten – entsteht oft ein ganz neues Körperbewusstsein. Oder wir selbst führen eine kleine Bewegung an, um eine neue Richtung anzuregen. Das bringt Lebendigkeit in das Tamas.
Langsamkeit schafft Tiefe
Ein zentraler Grundsatz in der tamasischen Arbeit lautet: Langsamkeit ist der Weg zur Tiefe. Wenn wir zu schnell „hineingehen“, überrollen wir das System – und erzeugen genau die Abwehr, die wir lösen wollen. Ein gutes Kriterium: Wenn du spürst, dass du „ziehen“ oder „drücken“ musst, gehst du zu schnell. Wenn dein Klient oder deine Klientin innerlich ausweicht, zuckend reagiert oder gedanklich abschaltet – gehst du zu tief.
Anatomisches Wissen: Ja, unbedingt!
Ein Thema, das in der Energiearbeit manchmal unterbetont wird: Kenntnis der Anatomie. Manche sagen: „Ich arbeite mit Energie – ich brauche keine Anatomie.“ Doch ich sehe das anders: Wenn ich weiss, was unter meinen Händen liegt – Muskeln, Faszien, Organe, Gelenke – kann ich viel bewusster wirken. Es geht nicht um medizinisches Detailwissen, sondern um Orientierung. Die Energie fliesst durch Strukturen – und wenn ich diese Strukturen kenne, kann ich die Energie gezielter begleiten.
Resonanz: Der Schlüssel zu echter Verbindung
Am Zentrum dieses Modells steht das Wort Resonanz. Wenn wir im gleichen Rhythmus schwingen wie unser Gegenüber – sei es durch den Atem, durch ein Feld, durch einen gemeinsamen Fokus – dann entsteht echte Tiefe. Dann lösen sich nicht nur Muskeln, sondern auch innere Haltungen. Und genau dort beginnt die Heilung.
Einladung zum bewussten Berühren
Mir ist es ein Herzensanliegen, solche Reflexionen in unsere Gemeinschaft hineinzutragen. Tiefe – echte Tiefe – entsteht durch Bewusstheit, durch Geduld, durch Wissen und durch innere Haltung. Nicht durch Kraft. Nicht durch Technik allein.
Gerade in der kommenden dunkleren Jahreszeit dürfen wir uns an die Kraft von Tamas erinnern – nicht als Trägheit, sondern als Ruhepol, als Substanz, als Boden, auf dem Transformation geschehen kann.
Lasst uns unsere Berührungsqualität gemeinsam weiterentwickeln. In Verbindung mit uns selbst, mit unseren Klient*innen – und mit den tiefen Rhythmen des Lebens.
Herzlich,
Melanie Goumri
Präsidentin Polarity Verband Schweiz
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